Neues Dorf
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GEMEINSCHAFT, GEMEINSAMKEIT, ANLIEGEN, GEMEINSCHAFTSBILDUNG


Klärung des gemeinsamen Anliegens in Gemeinschaftsprojekten

11. Juli 2022

von Esther Schwann


Warum scheitern so viele Gemeinschaftsprojekte? Warum tun sich Menschen, die an Projekten mitwirken wollen, oft so schwer auch auf Dauer dabei zu bleiben? Was macht den Reiz aber auch die grosse Herausforderung von Gemeinschaftsprojekten aus?


Trifft Individualismus auf ein neues Wir?

Hier in Mitteleuropa unterlagen wir für Jahrzehnte weniger einer ethischen Grundhaltung des Individualismus als vielmehr einer durch Verordnungen, Regeln und Abgaben gesteuerten Masse von Menschen. Neben Vollzeitjob, Rumpffamilie und finanziellen Verpflichtungen bestand das Bedürfnis, sich durch Reisen ein klein wenig ‚Freiheit‘ in den gestressten Alltag zu holen. Diese Freiheit konnte sich bislang mit relativ günstigen Flügen und Hotelkosten erkauft werden. Und jetzt bricht gerade alles, was diese Art und Form der Existenz einmal ausmachte, zusammen.


Im Verlauf der letzten zwei bis drei Jahre entdeckten wir plötzlich, dass in unserer Nähe Menschen leben, die ähnliche Träume und Wünsche für ein besseres Leben haben. Es bildeten sich erste Formen von Gemeinschaften mit Treffen unter neuen Freunden und erste Überlegungen, wie sich in Zukunft gemeinsam besser organisiert werden kann. Ist es möglich, so etwas wie ein neues Aufleben von dörflichen Gemeinschaften im ländlichen wie auch im städtischen Umfeld zustande zu bringen? Wir spüren, dass wir uns vernetzt gemeinsam besser unterstützen können. Was ist jedoch die Triebfeder aktuell für diese Form des Miteinander? Und jetzt mitten im Sommer realisieren wir, dass der Drang vieler nach Ferien wichtiger scheint, als der Neuanfang für eine bessere Zukunft.

Ist es wirklich der freie selbstbestimmte Entschluss eines Individuums, ins Handeln zu kommen? Oder entstand der neue Zusammenhalt eher aus einer gefühlten Not heraus, der in dem Moment brüchig wird, sobald die Ketten des Systems nicht mehr so hart an den Gliedern zerren? Wir stellen fest, dass der Mangel nicht das Anliegen sein kann, für das die Menschen zusammen stehen sollten. Die Frage nach: „Was kann mir die Gemeinschaft geben, dass es mir gut oder besser geht?“, ist nicht der Kitt, der uns auf Dauer zusammen hält. Aber was ist es dann?


Was wollen wir für die Welt tun?

Der Wechsel des Standpunktes hin zu dem, der gibt, lässt den Menschen in die eigene kreative Fülle kommen, heraus aus der Passivität. Das hat etwas mit Selbstermächtigung zu tun. Plötzlich bekommt das eigene Anliegen eine neue Ausrichtung, eine neue Bedeutung: „Was will ich konkret für das Neue umsetzen? Und was ist mir wirklich wichtig?“


Es ist wichtig, dass wir uns über heutige und noch eintretende Mangellagen hinwegsetzen und uns dem Kern der Frage widmen, wie wir gemeinsam die Zukunft erschaffen wollen.

Auch die Projektgruppe für eine Gemeinschaft darf sich fragen, welches ihr Anliegen für die Welt ist. Es braucht einen Wertekanon, für den alle Teilnehmer einstehen mögen, wo sich alle wiederfinden, für das es sich lohnt als Gruppe einzusetzen. Anliegen bedeutet: eine wichtige Sache, die alle betrifft. Das Gemeinsame ist herauszuarbeiten, womit sich jeder identifizieren kann.


Hier treffen jedoch individuelle Wertvorstellungen unter Umständen auf ein von gemeinsam definierten Werten begründetes Gemeinschaftsprojekt, das den eigenen Anliegen zuwider laufen könnte. Deshalb ist es so wichtig, das Gemeinschaftsanliegen gleich zu Beginn des Projektes zu klären, damit sich jeder Kandidat die Frage stellen kann, ob er das mittragen kann und will. Was kann sich nun unter dem so genannten Anliegen genau vorgestellt werden?


Das Geschenk

Der Psychiater Scott Peck beginnt sein Buch „The different drum“ mit dieser Geschichte. Kurz zusammengefasst geht es darin um einen sterbenden Klosterorden. Nur noch ein paar wenige alte Mönche versammeln sich um einen ebenso alten Abt. In Klosternähe gibt es eine Hütte, die gelegentlich von einem Rabbiner aufgesucht wird. Diesen fragt der Abt schliesslich um Rat, aber auch der weiss keine Hilfe, um den sterbenden Orden zu retten. Nur so nebenbei lässt er zum Abschied fallen, das Einzige, was er sagen könne, sei, dass einer von den übrig gebliebenen Mönchen bestimmt der Messias sein müsse. Nun beginnt das grosse Rätseln, denn über dieser ihnen unklaren Aussage müssen die Mönche nun endlos brüten, was dazu führt, dass sie einander zunehmend mit grossem Respekt zu behandeln beginnen. Schliesslich könnte ja tatsächlich der jeweils andere der Messias sein. Dies führt dazu, dass das Kloster allmählich eine enorme Aura von Respekt zu umgeben beginnt, welche anfängt, in die Welt auszustrahlen. Und es dauert nicht lange, bis diese Ausstrahlung die Menschen anzieht und das Kloster wieder erblüht.


Was für eine tiefgründige wie vielschichtige Geschichte! Sie zeigt sehr trefflich auf, dass es keine langen Aufsätze braucht, um den Kern eines Anliegens herauszuarbeiten, in diesem Fall der Respekt, die Ehrerbietung für die Göttlichkeit im Gegenüber.


Einblicke in aktuelle Projekte

Damit das Erarbeiten des Anliegens für Gruppen leichter fällt, sollen anhand der folgenden vier Fallbeispiele die Fallstricke in diesem Prozess aufgezeigt werden.


1. Eine konkrete Liegenschaft soll übernommen werden. Eine Gruppe Interessierter macht sich über mehrere Monate Gedanken zum Projekt, zur Finanzierung, zur Rechtsform und einigt sich auf ein recht umfangreiches Leitbild. Beim Lesen entsteht der Eindruck von Fülle, Komplexität, ja fast einer Grösse, die an ein Ideal erinnert. Alle Teilnehmer unterzeichnen das Leitbild. Der Tag der Vertragsabschlüsse rückt näher, und die Gruppe verliert die Hälfte ihrer Teilnehmer. Ohne alle Hintergründe für das Scheitern hier zu benennen kann gesagt werden, dass das Leitbild  wohl zu einem Trugbild geworden war. Es fehlt immer noch das eigentliche Anliegen, das heissen könnte: „Gesund alt werden.“.


2. Einige Aktive wollen etwas bewegen und definieren einige Arbeitsthemen, um die sich in der näheren Region eine Gemeinschaft bilden soll. Die Initiatoren treffen sich regelmässig im kleinen Kreis und laden monatlich Interessierte ein, um über das Projekt zu informieren. Der Kreis der Gäste variiert, es bildet sich kein aktiver Kern um jedes Gruppenthema. Die Initiatoren wissen nicht, wie sie die Menschen für die Themen begeistern sollen. Den Gästen fehlt die Bindung an das noch unbekannte Herzensanliegen, welches lauten könnte: „Wir halten zusammen.“.


3. Ein Visionär regt die Bildung einer festen Gruppe mit dem Ziel der Gemeinschaftsbildung an, bevor ein konkretes Wohnprojekt in Aussicht steht. Das erste Ziel ist bewusst die Gruppenbildung, das sich Kennen lernen und Vertrauen aufbauen. Die Liegenschaften und Objekte sollen erst gesucht werden, nachdem sich die Menschen über grundlegende Themen geeinigt haben. Der Ansatz ist gut, jedoch fehlt auch hier noch das Anliegen. Es besteht die Gefahr, dass sich mit dem Erarbeiten einer Charta lediglich eine Satzung gegeben wird. Das Anliegen könnte „Natürlich leben.“ sein.


4. Viele Gemeinschaften, denen eine starke Persönlichkeit vorsteht, zerbrechen bei dessen Tod, weil er der Fokuspunkt war, der als Autorität die Gruppe zusammen hielt. Gurus vertreten oft eine religiöse oder irgendwie geartete Ideologie, was den Menschen Richtung und Halt gibt, wenn sie selbst in der Bedürftigkeit stehen. In solchen Einrichtungen akzeptieren die Anhänger zum Teil repressives Verhalten seitens der Zentrumsleitung. Sobald die Vaterfigur entschwindet, ist auch der Halt verloren. Das Anliegen war hier: „Ich gebe Euch Halt und Richtung.“.

Zuerst Gemeinsamkeit aufbauen

Es soll geschlossen werden mit einigen Textstellen von Seite 20/21 aus dem Büchlein von Dieter Brüll 'Gemeinschaft und Gemeinsamkeit': "Gemeinsamkeit, es geht dabei um das Gegenteil von Zusammenarbeit. Menschen finden sich, die einen Impuls gemeinsam haben. … Im Gegensatz zur Gemeinschaft steht jeder der Gefährten in seinem eigenen Arbeitskreis. Man braucht einander nur selten zu begegnen. Aber bei jedem Schritt im Leben spürt man die geistige Anwesenheit aller anderen, um die Situation im Sinne des Impulses zu meistern. … Gemeinsamkeit ist nicht, eine Initiative zu ergreifen. Das gemeinschaftliche Ziel stellt da im Allgemeinen den Angelpunkt dar, obwohl es vorkommt, dass die Gründer einer Institution aus einem gemeinsamen Impuls heraus gründen; oft zerschellt dieser aber dann an der gemeinschaftlichen Arbeit."


Das Anliegen, das gemeinsame Motto, muss die Gründer und Initiatoren überdauern und sich in jeder Aktivität seiner Individuen innerhalb der Gemeinschaft widerspiegeln. Eine abschliessende Frage: Was könnte das Anliegen, eine ‚Gemeinschaft freier Menschen‘ zu sein, für alle seine Teile bedeuten?


In den kommenden Monaten werden in diesem Blog immer wieder Gedanken und Ausarbeitungen zum Thema Gemeinschaftsbildung geteilt. Für Fragen und Anregungen oder eine Anfrage zur Unterstützung im Prozess der Anliegenfindung wird herzlich um Kontaktaufnahme gebeten.


Kontakt

Esther Schwann

Haldenweg 10

4310 Rheinfelden

061 631 12 62

e.schwann [at] bluewin.ch

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